Das VG Kassel hat am 28.02.2018 entschieden, dass eine Beamtin, die als Sachbearbeiterin in der Abteilung Allgemeine Soziale Dienste eines Jugendamtes tätig ist, während des Dienstes ein Kopftuch tragen darf.
Die Klägerin, die bei einer Stadt im gehobenen nichttechnischen Dienst beschäftigt ist, ist in der Abteilung Allgemeine Soziale Dienste (Sachgebiet wirtschaftliche Jugendhilfe – Erziehungshilfe) des Jugendamtes der Stadt tätig. Dort ist sie eingebunden in die Bewilligung von Jugendhilfen für Kinder und Jugendliche aus problematischen Familienverhältnissen. Seit ca. sechs Jahren trägt die Klägerin als Ausdruck ihrer individuellen Glaubenszugehörigkeit ein Kopftuch. Am 30.11.2015 beantragte sie die Genehmigung, während des Dienstes ein Kopftuch tragen zu dürfen. Die Neutralität der Verwaltung, gerade einer Kommunalverwaltung mit nahezu ausnahmslos nichtpädagogischen Aufgabeninhalten, werde nicht gefährdet, wenn sie das Kopftuch während des Dienstes trage. Sie versicherte, dass sie die gebotene Neutralität bei der Aufgabenerledigung und gegenüber Dritten wahren werde. Mit Bescheid vom 20.05.2016 lehnte die Beklagte den Antrag ab. Sie berief sich auf die Neutralitätspflicht für Beamte. Das islamische Kopftuch stelle sich als Kundgabe einer religiösen Auffassung dar. Da die Klägerin in ihrer derzeitigen Tätigkeit hoheitliche Aufgaben mit Außenwirkung (hier: Publikumsverkehr) wahrnehme, sei das Tragen des Kopftuches objektiv dazu geeignet, das Vertrauen in die Neutralität der Amtsführung zu beeinträchtigen. Es beständen aber keine Bedenken dagegen, dass die Klägerin das Kopftuch vor und nach dem Dienst und etwa während Fortbildungen, Personalversammlungen o.ä. trage. Im laufenden Widerspruchsverfahren erklärte die Klägerin darüber hinaus, dass sie mit dem Kopftuch kein Signal nach außen setzen wolle. Es handele es sich vielmehr um die Befolgung einer religiösen Regel, die sie als verbindlich empfinde. Das Tragen des Kopftuches sei für sie ein Akt der religiösen Selbstbestimmung und gerade kein Ausdruck eines Glaubens, der die Unterdrückung und Diskriminierung von Frauen propagiere. Ein von der Stadt unterbreitetes Angebot einer gleichwertigen Tätigkeit in einem Einsatzbereich anzubieten, in dem das Tragen des Kopftuches unproblematisch sei, lehnte die Klägerin ab. Mit Widerspruchsbescheid vom 02.03.2017 wies die Beklagte den Widerspruch zurück. Am 30.03.2017 erhob die Klägerin Klage. Zur Begründung trug sie vor, sie habe kaum Publikumsverkehr. Der Kontakt der Sachbearbeiter der wirtschaftlichen Jugendhilfe zu den Antragstellern erfolge überwiegend über die Sozialarbeiter des Allgemeinen Sozialen Dienstes. Im Übrigen verlaufe die Kommunikation in der Regel über Telefon oder per E-Mail. Die Jugendhilfe habe tägliche Öffnungszeiten von einer Stunde. Jeder Sachbearbeiter habe im Schnitt ein bis drei Vorsprachen pro Woche. Zumeist gehe es darum, Bargeld abzuholen oder Unterlagen einzureichen. Es sei zudem nicht auf jegliches Publikum abzustellen, das die Klägerin irgendwie wahrnehmen könnte, sondern nur auf dasjenige, das gezielt mit ihr in Kontakt trete. Die Stadt hielt dem entgegen, dass in der Abteilung der Klägerin täglich eine Stunde Sprechstunde sei, zusätzlich 1,5 weitere Stunden am Mittwochnachmittag. Darüber hinaus seien die Öffnungszeiten montags bis donnerstags von 8:00 Uhr bis 17:00 Uhr und freitags von 8:00 Uhr bis 13:00 Uhr. Die Publikumskontakte fänden direkt mit den Sachbearbeitern und nicht über die Sozialarbeiter statt. Die Kommunikation erfolge nicht hauptsächlich über E-Mail oder Telefon, da gerade bei der wirtschaftlichen Jugendhilfe umfangreiche Dokumente abgegeben werden müssten. Die Klägerin sitze in einem Doppelzimmer mit offener Verbindungstür zum Nachbarzimmer. Alle Mitarbeiter hätten Kundenkontakt und empfingen die Bürger während der Öffnungszeiten und bearbeiteten deren Anträge, dies auch in Vertretung. Eine Reduzierung der Sprechstunde komme nicht in Betracht. Die Klägerin sei im Rahmen ihres Tätigkeitsbereiches eine Repräsentantin der Beklagten und nehme hoheitliche Aufgaben nach außen wahr. Die staatliche Neutralität und die negative Glaubensfreiheit der Bürger seien dementsprechend nicht gewährleistet.
Das VG Kassel hat der Klage stattgegeben und den Bescheid aufgehoben, durch den die Stadt den Antrag der Beamtin auf Genehmigung zum Tragen eines Kopftuches während der Dienstzeit abgelehnt hatte.
Nach Auffassung des Verwaltungsgerichts sind die Voraussetzungen des § 45 Satz 1 und 2 HBG, auf den die Beklagte die ablehnende Entscheidung gestützt hat, nicht erfüllt. Da das Verbot, ein Kopftuch während des Dienstes zu tragen, in die Glaubens- und Bekenntnisfreiheit der Klägerin eingreife, bedürfe es einer einschränkenden Auslegung des § 45 HBG, wonach eine hinreichend konkrete Gefahr für das Schutzgut der staatlichen Neutralität oder Grundrechte Dritter vorliegen müsse. Daran fehle es hier. Der Eingriff in die Glaubens- und Bekenntnisfreiheit der Klägerin sei damit unverhältnismäßig und nicht gerechtfertigt. Die Klägerin könne sich als Beamtin auf ihr Grundrecht aus Art. 4 Abs. 1 und 2 GG berufen. Die Klägerin könne ein religiös motiviertes Verhalten geltend machen. Sie betrachte nach ihrem Vorbringen das Tragen eines Kopftuches als für sich verbindlich von den Regeln ihrer Religion vorgegeben. Das Befolgen dieser Bekleidungsregel sei für sie Ausdruck ihres religiösen Bekenntnisses. Auf die umstrittene Frage, ob und inwieweit die Verschleierung für Frauen von Regeln des islamischen Glaubens vorgeschrieben sei, komme es nicht an. Eine Verpflichtung von Frauen zum Tragen eines Kopftuches in der Öffentlichkeit lasse sich jedenfalls nach Gehalt und Erscheinung als islamisch-religiös begründete Glaubensregel dem Schutzbereich des Art. 4 Abs. 1 und 2 GG hinreichend plausibel zuordnen, da ein entsprechendes Bedeckungsverbot – unabhängig von den Unterschieden im Detail – unter den verschiedenen Richtungen des Islam verbreitet sei und sich auf den Koran zurückführen lasse. Das Verbot, ein Kopftuch während des Dienstes zu tragen, stelle einen Eingriff in die Glaubens- und Bekenntnisfreiheit dar. Denn dadurch werde die Klägerin vor die Wahl gestellt, entweder ihr Amt im konkret-funktionellen Sinne auszuüben oder dem von ihr als verpflichtend angesehenen religiösen Bekleidungsgebot Folge zu leisten. Vor diesem Hintergrund erscheine eine Beeinträchtigung der negativen Glaubens- und Bekenntnisfreiheit der Bürger, die mit der Kopftuch tragenden Klägerin konfrontiert würden, möglich. Zwar trage die Klägerin das Kopftuch aufgrund ihrer eigenen religiösen Entscheidung und nicht auf Veranlassung der Stadt. Das Kriterium der staatlichen Zurechnung sei jedoch weit zu ziehen: Auch wenn der Staat religiöse Bekundungen der Repräsentanten, durch die er handele, dulde, mache er sich diese mittelbar zu Eigen. Denn da es sich um einen staatlichen Lebensbereich handele, präge gerade auch jede individuelle Glaubenshandlung, die staatlicherseits geduldet werde, die Situation, mit der der Bürger konfrontiert werde. Entscheidend sei, ob aus der Perspektive des Bürgers von einer unausweichlichen Situation gesprochen werden könne oder ob dieser sich dem religiösen Bekenntnis in der staatlichen Sphäre entziehen könne. Eine solche unausweichliche Situation liege hier vor. Die Bürger, die die Angebote der Abteilung Allgemeine Soziale Dienste in Anspruch nehmen möchten, könnten keine andere Behörde bzw. Abteilung aufsuchen, da die Abgrenzung der Zuständigkeiten der Verwaltungsträger sowie die verwaltungsinternen Zuständigkeits- und Organisationsregelungen dem entgegenstünden. Nach dem Organisationsrecht sei die Klägerin zudem als Sachbearbeiterin für einzelne Fälle zuständig. Ob und inwieweit ein “Ausweichen” auf einen anderen Sachbearbeiter im Einzelnen möglich sei, bedürfe keiner Erörterung. Denn auch außerhalb ihres eigenen Zuständigkeitsbereiches stehe die Klägerin dem Publikumsverkehr für diesen unausweichlich gegenüber. Die Bürger würden jedenfalls insoweit mit dem religiösen Bekenntnis der Klägerin konfrontiert, als sie dieses optisch wahrnehmen könnten. Diese Wahrnehmbarkeit werde durch die offene räumliche Situation begünstigt und sei außerdem dem Umstand geschuldet, dass zumindest eine strenge Zuteilung eines Bürgers zu einem einzelnen Sachbearbeiter bei persönlichen Vorsprachen nicht gewährleistet sei, sondern vielmehr alle Bediensteten die Anliegen der Antragsteller, auch vertretungsweise, bearbeiteten. Zwar könne der Klägerin nicht vorgeworfen werden, andere für ihr Glaubensverständnis werbend beeinflussen zu wollen. Es handele sich nichtsdestoweniger bei dem Kopftuch um ein “ostentatives” Zeichen, das den Wahrnehmenden zu einer entsprechenden Reaktion bewege. Ausgehend von diesen Erwägungen sei das von der Klägerin getragene Kopftuch zwar objektiv geeignet i.S.d. § 45 S. 2 HBG, das Vertrauen in die Neutralität ihrer Amtsführung zu beeinträchtigen oder den religiösen Frieden zu gefährden. Der Eingriff in die Glaubens- und Bekenntnisfreiheit der Klägerin wiege aber schwer, da sie die Befolgung eines nachvollziehbar als verpflichtend empfundenen Glaubensgebotes geltend mache. Die Beklagte habe der Klägerin zwar eine anderweitige Verwendungsmöglichkeit in Aussicht gestellt. Die Dienstpflichten hinsichtlich des islamischen Kopftuches stellten sich allerdings nicht lediglich als innerorganisatorische Maßnahme dar, sondern berührten die Individualsphäre der Klägerin erheblich. Demgegenüber sei der mittelbare Eingriff in die negative Glaubens- und Bekenntnisfreiheit der Bürger von geringerem Gewicht, da der Staat das von der Klägerin zur Schau gestellte religiöse Symbol lediglich toleriere und sich nicht erkennbar hiermit identifiziere oder das Verhalten der Klägerin anderweitig positiv werte. Die abstrakte Gefahr der Beeinträchtigung der staatlichen Neutralität wiederum resultiere v.a aus der polarisierenden Wirkung des Kopftuches bzw. dessen kontroversem Symbolgehalt. Diese Bedeutungsdimensionen seien der Klägerin als einzelner Grundrechtsträgerin jedoch nicht zuzurechnen, solange sie nicht die Bürger, mit denen sie dienstlich zu tun habe, von ihrem Glaubensverständnis zu überzeugen suche. Auf der Grundlage der gebotenen einschränkenden Auslegung sei im Fall der Klägerin keine Neutralitätspflichtverletzung zu besorgen. Die Stadt habe keine Anhaltspunkte für eine konkrete Gefahr für Grundrechte Dritter oder die staatliche Neutralität im Tätigkeitsbereich der Klägerin vorgetragen und solche seien auch sonst nicht ersichtlich. Es bedürfe auch keiner weiteren gerichtlichen Aufklärung hinsichtlich des im Detail streitigen Umfanges des Publikumsverkehrs im Tätigkeitsbereich der Klägerin. Das von der Stadt herangezogene Kriterium, dass es sich um einen Aufgabenbereich mit Publikumsverkehr handele, sei von vornherein ungeeignet. Das Kriterium des Publikumsverkehrs ermögliche lediglich eine Abgrenzung von Verhaltensweisen ohne Außenbezug, bei denen es aber ohnehin von vornherein an der objektiven Eignung zur Beeinträchtigung der staatlichen Neutralität fehlen dürfte.
VG Kassel, Urt. v. 28.02.2018 – 1 K 2514/17.KS
Pressemitteilung des VG Kassel Nr. 2/2018 v. 03.05.2018