Mit heute veröffentlichtem Beschluss hat der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts entschieden, dass § 37 Abs. 1 Nr. 5 des Beamtengesetzes für das Land Nordrhein-Westfalen (LBG NRW) in den Fassungen vom 21. April 2009 und vom 14. Juni 2016 mit Art. 33 Abs. 5 des Grundgesetzes (GG) unvereinbar und nichtig ist. Die Vorschrift stuft die Polizeipräsidenten in Nordrhein-Westfalen als politische Beamte ein und ermöglicht damit ungeachtet ihres Status als Beamte auf Lebenszeit ihre jederzeitige Versetzung in den einstweiligen Ruhestand.
Der Kläger des Ausgangsverfahrens war Polizeipräsident von Köln. Nach den Ereignissen in der „Kölner Silvesternacht“ 2015/2016, als es im Bereich des Kölner Doms und des Bahnhofsvorplatzes unter anderem zu zahlreichen Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung kam, wurde der Kläger im Januar 2016 in den einstweiligen Ruhestand versetzt. Hiergegen erhob er Klage. Das Oberverwaltungsgericht des Landes Nordrhein-Westfalen hat das Verfahren ausgesetzt und dem Bundesverfassungsgericht § 37 Abs. 1 Nr. 5 LBG NRW zur Prüfung vorgelegt.
§ 37 Abs. 1 Nr. 5 LBG NRW verstößt gegen Art. 33 Abs. 5 GG und ist daher nichtig. Die Möglichkeit der jederzeitigen Versetzung eines Polizeipräsidenten in den einstweiligen Ruhestand greift in das Lebenszeitprinzip in der Ausprägung der grundsätzlichen Unentziehbarkeit des statusrechtlichen Amtes ein. Dieser Eingriff ist nicht durch besondere Sacherfordernisse des betroffenen Amtes gerechtfertigt. Weder der den Polizeipräsidenten in Nordrhein-Westfalen zugewiesene Aufgabenbereich oder der ihnen zugemessene Entscheidungsspielraum noch ihre organisatorische Stellung, der Umfang der ihnen auferlegten Beratungspflichten gegenüber der Landesregierung oder andere Gesichtspunkte weisen das Amt des Polizeipräsidenten als ein „politisches“ aus.
Sachverhalt:
Ein Polizeipräsident in Nordrhein-Westfalen leitet eines von 18 Polizeipräsidien, welche als Kreispolizeibehörden in Polizeibezirken mit mindestens einer kreisfreien Stadt sachlich für die Gefahrenabwehr, für die Erforschung und Verfolgung von Straftaten und Ordnungswidrigkeiten und für die Überwachung des Straßenverkehrs zuständig sind. Im Übrigen wird die Funktion der Kreispolizeibehörde durch 29 Landrätinnen oder Landräte ausgeübt, sodass insgesamt 47 Kreispolizeibehörden bestehen.
Die Kreispolizeibehörden stellen organisationsrechtlich untere Landesbehörden dar. Die Fachaufsicht über die Kreispolizeibehörden liegt bei den drei polizeilichen Landesoberbehörden, dem Landesamt für Zentrale Polizeiliche Dienste (LZPD), dem Landesamt für Ausbildung, Fortbildung und Personalangelegenheiten der Polizei (LAFP) und dem Landeskriminalamt (LKA). Das LAFP führt die Dienstaufsicht im Bereich des Dienst- und Arbeitsrechts. In diesem Fall ist das Ministerium oberste Dienstaufsichtsbehörde, im Übrigen die Dienstaufsichtsbehörde. Wichtige Ereignisse innerhalb des Landes sind durch die Polizeibehörde an das Innenministerium zu melden. Über wichtige Ereignisse von herausragender Bedeutung beziehungsweise besonderer Eilbedürftigkeit sind dem LZPD Vorausmeldungen zu machen; dieses informiert das Ministerium, das LKA und erforderlichenfalls das LAFP.
Der Kläger des Ausgangsverfahrens war seit 2011 Polizeipräsident von Köln. In der Silvesternacht 2015/2016 kam es im Bereich des Kölner Doms und des Bahnhofsvorplatzes zu einem polizeilichen Einsatzgeschehen, das bundesweit für Aufsehen sorgte. Aus einer großen Personengruppe heraus wurden zahlreiche Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung sowie Raub- und Diebstahlsdelikte begangen. Am 18. Januar 2016 wurde der Kläger mit sofortiger Wirkung von seinen Aufgaben als Polizeipräsident von Köln entbunden und in den einstweiligen Ruhestand versetzt. Hiergegen wandte er sich an das Verwaltungsgericht, das seine Klage abwies. In der Berufungsinstanz hat das Oberverwaltungsgericht das Verfahren ausgesetzt und dem Bundesverfassungsgericht die Frage vorgelegt, ob § 37 Abs. 1 Nr. 5 LBG NRW gegen Art. 33 Abs. 5 GG verstößt.
Wesentliche Erwägungen des Senats:
§ 37 Abs. 1 Nr. 5 LBG NRW ist verfassungswidrig, weil die Regelung gegen Art. 33 Abs. 5 GG verstößt.
I. 1. Nach Art. 33 Abs. 5 GG ist das Recht des öffentlichen Dienstes unter Berücksichtigung der hergebrachten Grundsätze des Berufsbeamtentums zu regeln und fortzuentwickeln. Mit den hergebrachten Grundsätzen des Berufsbeamtentums ist der Kernbestand von Strukturprinzipien gemeint, die allgemein oder doch ganz überwiegend während eines längeren, traditionsbildenden Zeitraums, insbesondere unter der Weimarer Reichsverfassung, als verbindlich anerkannt und gewahrt worden sind.
2. Zu dem Kernbestand von Strukturprinzipien, bei dem die Beachtenspflicht den Weg zu tiefgreifenden strukturellen Veränderungen durch den einfachen Gesetzgeber versperrt, gehört unter anderem das Lebenszeitprinzip. Es hat – im Zusammenwirken mit dem die amtsangemessene Besoldung und Versorgung sichernden Alimentationsprinzip – die Funktion, die Unabhängigkeit der Beamtinnen und Beamten im Interesse einer rechtsstaatlichen Verwaltung zu gewährleisten.
3. Im demokratischen Rechtsstaat des Grundgesetzes ist eine Ausnahme vom Beamtenverhältnis auf Lebenszeit verfassungsrechtlich – erstens – nur in den Bereichen zulässig, in denen es deren besondere Sachgesetzlichkeit und die Art der wahrgenommenen Aufgaben nahelegen. Die Ausnahmeregelung muss – zweitens – geeignet und erforderlich sein, um diesen besonderen Sachgesetzlichkeiten Rechnung zu tragen. Die Frage, ob besondere aus der betroffenen Stellung und deren Aufgabenspektrum folgende Sachgesetzlichkeiten eine Ausnahme vom Beamtenverhältnis auf Lebenszeit erforderlich machen, ist – drittens – keiner generalisierenden Beantwortung zugänglich, sondern bedarf einer konkreten, alle erheblichen Gesichtspunkte einbeziehenden Bewertung der jeweiligen Regelungsstruktur im Einzelfall.
4. Eine anerkannte Ausnahme vom Lebenszeitprinzip stellen die politischen Beamten dar. Ihnen wird ihr statusrechtliches Amt auf Lebenszeit übertragen. Dieses Amt ist jedoch einer weitgehend unbeschränkten Möglichkeit der Versetzung in den einstweiligen Ruhestand unterworfen.
Dem Status des politischen Beamten kommt gegenüber dem Regelfall des Beamtenverhältnisses auf Lebenszeit ein eng zu bestimmender Ausnahmecharakter zu. Der mit dieser Ausnahme verbundene Eingriff in das Lebenszeitprinzip kann nur durch die Besonderheiten der betroffenen Stellung und der damit verbundenen Aufgabenwahrnehmung gerechtfertigt werden. Ihre sachliche Rechtfertigung findet die Ausnahmekategorie der politischen Beamten darin, dass diese nach der Art ihrer Aufgaben in besonderer Weise des politischen Vertrauens der Staatsführung bedürfen und in fortwährender Übereinstimmung mit den grundsätzlichen politischen Ansichten und Zielen der Regierung stehen müssen. Es handelt sich regelmäßig um „Transformationsämter“, zu deren Aufgaben es zählt, politische Vorgaben über den bloßen – gegebenenfalls ermessensgesteuerten – Vollzug bereits vorhandenen Gesetzesrechts hinaus in gesetzeskonformes und rechtsstaatliches Verwaltungshandeln umzusetzen.
Wann die Einstufung eines Amtes als in diesem Sinne „politisch“ anzunehmen ist, hängt von einer Reihe von Faktoren ab, die im Rahmen einer in jedem Einzelfall vorzunehmenden Gesamtbetrachtung Anhaltspunkte dafür bieten können, dass eine fortdauernde politische Übereinstimmung des jeweiligen Amtsträgers mit den politischen Zielen der Regierung für die wirksame Aufgabenerfüllung unerlässlich ist.
5. Die bloße Einstufung eines Amtes als sogenanntes Repräsentationsamt rechtfertigt die Besetzung des Amtes mit einem politischen Beamten grundsätzlich nicht.
II. Die in § 37 Abs. 1 Nr. 5 LBG NRW verankerte Möglichkeit, Polizeipräsidenten, sofern sie Beamte auf Lebenszeit sind, jederzeit in den einstweiligen Ruhestand zu versetzen, ist mit Art. 33 Abs. 5 GG unvereinbar. Es liegt ein Eingriff in das Lebenszeitprinzip vor, der nicht durch besondere Sacherfordernisse des betroffenen Amtes gerechtfertigt ist.
1. Das Amt eines Polizeipräsidenten in Nordrhein-Westfalen und die damit verbundenen Aufgaben weisen keine besonderen Sachgesetzlichkeiten auf, die nach einer Gesamtwürdigung aller in Betracht zu ziehenden Indizien die Möglichkeit der jederzeitigen Versetzung in den einstweiligen Ruhestand und den damit verbundenen Eingriff in das Lebenszeitprinzip erforderlich machen könnten. Die Ausübung dieses Amtes bedarf nicht in besonderer Weise des politischen Vertrauens der Landesregierung und muss nicht in fortwährender Übereinstimmung mit ihren grundsätzlichen politischen Ansichten und Zielen stehen.
a) Bereits das Aufgabenspektrum eines Polizeipräsidenten in Nordrhein-Westfalen sowie die konkrete Art der Aufgabenwahrnehmung sprechen gegen ein derartiges Übereinstimmungserfordernis. Der geringe Umfang der bestehenden Entscheidungsspielräume eines Polizeipräsidenten in Nordrhein-Westfalen indiziert nicht, dass es sich um eine politische Schlüsselstelle für die wirksame Umsetzung der politischen Ziele der Regierung handelt, die eine spezielle Vertrauensbasis von Seiten der Landesregierung erforderte.
Den Kreispolizeibehörden sind im Wesentlichen drei Aufgaben zugewiesen, nämlich die Abwehr von Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung, die Erforschung und Verfolgung von Straftaten und Ordnungswidrigkeiten sowie die Überwachung des Straßenverkehrs. Diese Aufgaben sind, soweit Entscheidungsspielräume bestehen, nach pflichtgemäßem Ermessen zu erfüllen. Ein darüber hinausgehender politischer Gestaltungsspielraum ist den Kreispolizeibehörden nicht eingeräumt.
b) Das Vorliegen eines die Durchbrechung des Lebenszeitprinzips rechtfertigenden Entscheidungsspielraums der Polizeipräsidenten in Nordrhein-Westfalen wird ferner durch die normativ gesteuerten Kommunikationspflichten zwischen den Polizeibehörden ausgeschlossen.
Nach zwei Runderlassen des Ministeriums des Innern sind „wichtige Ereignisse“ innerhalb des Landes durch die Polizeibehörde zu melden, um dem für Inneres zuständigen Ministerium beziehungsweise den Landesoberbehörden der Polizei zeitgerechte politische, strategische, aufsichtliche sowie taktische Bewertungen und Entscheidungen zu ermöglichen. Über wichtige Ereignisse von herausragender Bedeutung beziehungsweise besonderer Eilbedürftigkeit sind dem LZPD Vorausmeldungen zu machen; dieses informiert dann das für Inneres zuständige Ministerium, das LKA und erforderlichenfalls das LAFP. Diese Kommunikationsstruktur spricht nachdrücklich gegen eine Einstufung der Polizeipräsidenten als politische Beamte. Denn ihr vorrangiges Ziel liegt gerade nicht in der Sicherstellung einer intensiven Beratung der übergeordneten Behörden oder des zuständigen Ministeriums zur Berücksichtigung etwaiger politischer Schwerpunktsetzungen, sondern in einer Verlagerung der Entscheidungszuständigkeit auf eine höhere Ebene.
c) Die organisatorische Stellung eines Polizeipräsidenten in Nordrhein-Westfalen lässt es ebenfalls fernliegend erscheinen, dass die Ausübung des Amts eines Polizeipräsidenten der fortdauernden Übereinstimmung mit den grundsätzlichen politischen Ansichten und Zielen der Regierung bedarf.
Hiergegen spricht insbesondere der Umstand, dass die Landräte als Leiter einer Kreispolizeibehörde den Polizeipräsidenten im Wesentlichen gleichgestellt sind, obwohl bei ihnen im Hinblick auf ihre Eigenschaft als Wahlbeamte gerade nicht gewährleistet ist, dass eine fortdauernde Übereinstimmung mit den grundsätzlichen politischen Ansichten und Zielen der Regierung besteht. Die Tatsache, dass der Landesgesetzgeber ihnen – nicht anders als den Polizeipräsidenten – die Aufgaben des Leiters der Kreispolizeibehörde übertragen hat, macht vielmehr deutlich, dass es für die Amtsführung der Leiter einer Kreispolizeibehörde gerade nicht eines besonderen politischen Vertrauensverhältnisses zur Regierung bedarf. Unterschiede bei den tatsächlich wahrgenommenen Aufgaben von Landräten als Kreispolizeibehörden und Polizeipräsidenten, die eine Übereinstimmung in den politischen Ansichten bei den Polizeipräsidenten erfordern würden, bei den Landräten als Kreispolizeibehördenleitern hingegen nicht, sind nicht erkennbar.
Auch die Anzahl der in Nordrhein-Westfalen bestehenden 47 Kreispolizeibehörden – von denen bei jedenfalls im Kern gleichem Aufgabenzuschnitt 29 durch Landräte und 18 durch Polizeipräsidenten geleitet werden – lässt keine Sachgesetzlichkeiten erkennen, die für die Einstufung der Polizeipräsidenten als politische Beamte sprechen könnten. Zwar mag die bloße Anzahl der von einem bestimmten Aufgabenzuschnitt geprägten Planstellen einer bestimmten Gruppe von Ämtern für sich genommen kein entscheidendes Indiz für oder gegen das Erfordernis einer Möglichkeit jederzeitiger Versetzung in den einstweiligen Ruhestand sein. Im Falle der Polizeipräsidenten in Nordrhein-Westfalen kommen jedoch weitere Umstände hinzu. Zum einen haben alle Polizeipräsidenten des Landes auf der Grundlage des für alle gleichlautenden Gesetzesrechts im Wesentlichen vergleichbare Gefahrensituationen zu bewältigen. Zum anderen stehen sie alle auf derselben Hierarchiestufe und sind in ihrer örtlichen Zuständigkeit jeweils auf einen kleinen Teil des Landes beschränkt. In einer solchen Organisationsstruktur wäre die Etablierung eines besonders engen Vertrauensverhältnisses zu jedem einzelnen Polizeipräsidenten mit dem Ziel, landesweit relevante politische Vorgaben zu erörtern und durchzusetzen, kaum effektiv und daher fernliegend.
Dass die Landesregierung bei der Umsetzung ihrer politischen Ziele zwingend auf die aktive Unterstützung der Polizeipräsidenten angewiesen wäre, ist ebenfalls nicht festzustellen. Das Ministerium des Innern ist über die Dienst- und Fachaufsicht jederzeit in der Lage, auf das Handeln der Polizeipräsidenten Einfluss zu nehmen.
d) Ein Indiz für eine gerechtfertigte Zuordnung der nordrhein-westfälischen Polizeipräsidenten zum Kreis der politischen Beamten ergibt sich auch nicht aus einer etwaigen Beratungsfunktion gegenüber der Landesregierung. Eine Zugehörigkeit der Polizeipräsidenten zum engsten Beraterkreis der Landesregierung ist nicht erkennbar.
2. Auch sonst ist nichts dafür ersichtlich, weshalb die Einstufung des Polizeipräsidenten in Nordrhein-Westfalen als politischer Beamter vor Art. 33 Abs. 5 GG Bestand haben könnte.
III. § 37 Abs. 1 Nr. 5 LBG NRW in der Fassung vom 21. April 2009 ist mit Art. 33 Abs. 5 GG unvereinbar und daher nichtig. Die Rechtsfolge ist im Interesse der Rechtsklarheit auch für die aktuelle Fassung der vorgelegten Vorschrift auszusprechen. Auf sie treffen die zur Verfassungswidrigkeit der Vorschrift führenden Gründe in gleicher Weise zu.
BVerfG, Beschl. v. 16.05.2024 – 2 BvL 2/22
Pressemitteilung des BVerfG vom 16.05.2024