Die estnische Regelung, nach der es absolut unmöglich ist, einen Strafvollzugsbeamten weiterzubeschäftigen, dessen Hörvermögen Mindesthörschwellen nicht erreicht, und die nicht die Prüfung gestattet, ob er in der Lage ist, seine Aufgaben zu erfüllen, verstößt gegen das Unionsrecht.
Diese Regelung begründet eine Ungleichbehandlung, die unmittelbar auf einer Behinderung beruht.
XX war nahezu 15 Jahre lang bei der Justizvollzugsanstalt Tartu (Estland) als Strafvollzugsbeamter beschäftigt. Während dieses Zeitraums trat die Verordnung Nr. 12 der Regierung der Republik Estland bezüglich Anforderungen an die Gesundheit der Strafvollzugsbeamten und Verfahren der Gesundheitsprüfung sowie Anforderungen an Inhalt und Form des Gesundheitszeugnisses in Kraft. In dieser Verordnung werden u. a. für diese Beamten geltende Mindesthörschwellen festgelegt und ist vorgesehen, dass eine Minderung des Hörvermögens unterhalb dieser Schwellen einen absoluten medizinischen Hinderungsgrund für die Ausübung der Tätigkeit als Strafvollzugsbeamter darstellt. Außerdem gestattet diese Verordnung nicht die Verwendung von korrigierenden Hilfsmitteln bei der Beurteilung der Erfüllung der Anforderungen an das Hörvermögen.
Am 28. Juni 2017 wurde XX vom Direktor der Strafvollzugsanstalt Tartu nach der Vorlage eines Gesundheitszeugnisses, in dem attestiert wurde, dass sein Hörvermögen die in der Verordnung Nr. 12 festgelegten Mindesthörschwellen nicht erreichte, entlassen.
XX erhob Klage beim Tartu Halduskohus (Verwaltungsgericht Tartu, Estland) und machte geltend, dass diese Verordnung eine Diskriminierung wegen einer Behinderung enthalte, die u. a. gegen die Põhiseadus (Verfassung) verstoße. Diese Klage wurde abgewiesen. Das Tartu Ringkonnakohus (Berufungsgericht Tartu, Estland) gab der Berufung von XX jedoch statt und stellte die Rechtswidrigkeit der Entlassungsentscheidung fest. Dieses Gericht entschied auch, ein gerichtliches Verfahren zur Prüfung der Verfassungsmäßigkeit der Bestimmungen dieser Verordnung beim vorlegenden Gericht, dem Riigikohus (Staatsgerichtshof, Estland), einzuleiten. Da dieser feststellte, dass sich die Pflicht, Personen mit Behinderung genauso wie andere Personen, die sich in einer vergleichbaren Situation befänden, und ohne Diskriminierung zu behandeln, nicht nur aus der Verfassung, sondern auch aus dem Unionsrecht ergebe, beschloss er, den Gerichtshof zu befragen, ob die Bestimmungen der Richtlinie 2000/78 (Richtlinie 2000/78/EG des Rates vom 27. November 2000 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf (ABl. 2000, L 303, S. 16) einer solchen nationalen Regelung entgegenstehen.
Würdigung durch den Gerichtshof
Nachdem der Gerichtshof festgestellt hat, dass die Verordnung Nr. 12 in den Geltungsbereich dieser Richtlinie fällt und eine Ungleichbehandlung begründet, die unmittelbar auf einer Behinderung beruht, prüft der Gerichtshof, ob diese auf der Grundlage von Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2000/78 gerechtfertigt werden kann, wonach die Mitgliedstaaten vorsehen können, dass eine Ungleichbehandlung wegen eines Merkmals, das im Zusammenhang mit diesem Diskriminierungsgrund steht, keine Diskriminierung darstellt, wenn das betreffende Merkmal aufgrund der Art einer bestimmten beruflichen Tätigkeit oder der Bedingungen ihrer Ausübung eine wesentliche und entscheidende berufliche Anforderung darstellt, sofern es sich um einen rechtmäßigen Zweck und eine angemessene Anforderung handelt. Soweit diese Bestimmung es ermöglicht, vom Diskriminierungsverbot abzuweichen, weist der Gerichtshof darauf hin, dass sie eng auszulegen ist.
Der Gerichtshof stellt u. a. fest, dass sich das Erfordernis, richtig hören zu können und insofern ein bestimmtes Hörvermögen zu besitzen, aus der Art der Aufgaben eines Strafvollzugsbeamten ergibt, wie sie vom vorlegenden Gericht beschrieben werden, und dass wegen der Art dieser Aufgaben und der Bedingungen ihrer Ausübung die Tatsache, dass sein Hörvermögen eine von der nationalen Regelung festgelegte Mindesthörschwelle erreichen muss, als „wesentliche und entscheidende berufliche Anforderung“ im Sinne dieses Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2000/78 angesehen werden kann.
Da die Verordnung Nr. 12 darauf abzielt, die Sicherheit von Personen und die öffentliche Ordnung zu wahren, stellt der Gerichtshof fest, dass diese Verordnung legitime Ziele verfolgt, und prüft dann, ob das von dieser Verordnung vorgesehene Erfordernis, wonach das Hörvermögen von Strafvollzugsbeamten Mindesthörschwellen erreichen muss, ohne dass die Verwendung von korrigierenden Hilfsmitteln zur Beurteilung des Erreichens dieser Schwellen gestattet ist, deren Nichterreichen einen absoluten medizinischen Hinderungsgrund für die Ausübung dieser Tätigkeiten darstellt, der diese beendet, geeignet ist, diese Ziele zu erreichen, und nicht über das hinausgeht, was hierzu erforderlich ist.
In Bezug auf die Geeignetheit dieses Erfordernisses weist der Gerichtshof darauf hin, dass eine Regelung nur dann geeignet ist, die Verwirklichung des geltend gemachten Ziels zu gewährleisten, wenn sie tatsächlich dem Anliegen gerecht wird, das verfolgte Ziel in kohärenter und systematischer Weise zu erreichen. Der Gerichtshof stellt fest, dass diese Verordnung Strafvollzugsbeamten gestattet, bei der Beurteilung der Einhaltung der Vorschriften, die sie im Bereich des Sehvermögens vorsieht, korrigierende Hilfsmittel zu verwenden, und dass diese Möglichkeit im Bereich des Hörvermögens ausgeschlossen ist.
In Bezug auf die Erforderlichkeit dieses Erfordernisses weist der Gerichtshof darauf hin, dass das Nichterreichen der von der Verordnung Nr. 12 festgelegten Schwellen der Ausübung der Tätigkeit als Strafvollzugsbeamter absolut entgegensteht, da diese Schwellen für alle Strafvollzugsbeamten ohne Ausnahme gelten. Außerdem erlaubt diese Verordnung keine individuelle Beurteilung der Fähigkeit des Strafvollzugsbeamten, die wesentlichen Aufgaben dieses Berufs trotz seiner Hörschwäche zu erfüllen.
Der Gerichtshof weist auch auf die sich aus Art. 5 der Richtlinie 2000/78 ergebende Pflicht des Arbeitgebers hin, die geeigneten und im konkreten Fall erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen, um Menschen mit Behinderung den Zugang zur Beschäftigung und die Ausübung eines Berufes zu ermöglichen, es sei denn, diese Maßnahmen würden den Arbeitgeber unverhältnismäßig belasten. Hierzu stellt der Gerichtshof fest, dass die Verordnung Nr. 12 dem Arbeitgeber von XX nicht gestattete, vor dessen Entlassung zu überprüfen, ob Maßnahmen wie die Verwendung eines Hörgeräts, eine Befreiung von der Pflicht, Aufgaben zu erfüllen, die das Erreichen der erforderlichen Mindesthörschwellen erfordern, oder eine Verwendung auf einer Stelle, die das Erreichen dieser Schwellen nicht erfordern, in Betracht zu ziehen waren, und dass keine Angabe dazu gemacht wird, ob die dadurch auferlegte Belastung unverhältnismäßig wäre.
Diese Verordnung scheint daher ein Erfordernis aufgestellt zu haben, das über das hinausgeht, was zur Erreichung der verfolgten Ziele erforderlich ist.
Der Gerichtshof kommt zu dem Ergebnis, dass Art. 2 Abs. 2 Buchst. a, Art. 4 Abs. 1 und Art. 5 der Richtlinie 2000/78 einer nationalen Regelung entgegenstehen, nach der es absolut unmöglich ist, einen Strafvollzugsbeamten weiterzubeschäftigen, dessen Hörvermögen nicht die in dieser Regelung festgelegten Mindesthörschwellen erreicht, und die nicht die Prüfung gestattet, ob dieser Beamte in der Lage ist, seine Aufgaben – gegebenenfalls nachdem angemessene Vorkehrungen im Sinne von Art. 5 getroffen wurden – zu erfüllen.
EuGH, Urt. v. 15.07.2021 – C-795/19
Pressemitteilung des EuGH Nr. 134/2021 v. 15.07.2021